Holger Fuchs – Wissen und Liebe

 

Vom Wissen und der Liebe oder wie das digitale Zeitalter unsere Beziehungen verändert 

 

 

Wie viel müssen wir wissen, um uns in eine andere Person zu verlieben? Die Frage klingt seltsam, aber wenn man sich die Geschichte der Liebe ansieht, ist sie zentral. Zwei Begebenheiten, die für unseren Kanon der Liebe von großer Bedeutung sind, illustrieren das gut: Im Jahr 1274 traf Dante Alighieri auf Beatrice, er war neun, sie acht Jahre alt. Dante sprach kaum mit ihr, dennoch verliebte er sich sofort. Obwohl beide andere Partner heirateten, sich so gut wie nie wieder trafen und Beatrice relativ früh starb, blieb sie als die große Liebe seines Lebens in seiner Dichtung verewigt. 1327 traf der Dichter Francesco Petrarca die junge Laura in einer Kirche in Avignon. Laura war 17 und bereits verheiratet. Petrarca kannte sie nicht, doch ein Blick auf sie reichte, um seine Liebe zu ihr in seinen Gedichten zu verewigen und sie ein Leben lang als seinen Schutzengel zu betrachten. 

 

Was uns an diesen Geschichten verwundern sollte, ist nicht, dass diese Männer einen lebenslangen Kult um eine Frau veranstalteten, die sie kaum kannten. Sie folgten damit den Gepflogenheiten der mittelalterlichen Minne, deren Hingabe vollkommen war und unverwüstlich. Vielmehr sollte uns wundern, dass diese Männer offenbar wenig Notwendigkeit verspürten, diese geliebten Frauen näher kennenzulernen. Weder körperlich noch sexuell, weder intellektuell noch emotional. Ihre Liebe nahm die Form dessen an, was der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard als „Nicht-Wissen“ bezeichnen würde. 

 

Wie Bernard beschreibt, ist auch Nicht-Wissen produktiv. Es erzeugt kulturelle Schöpfungen, lang anhaltende Überzeugungen, Gefühle, kraftvolle Rituale und Praktiken. Nicht-Wissen ist keinesfalls die Abwesenheit von Wissen. Die Macht des Nicht-Wissens ist stark, doch in unserer informationsgesättigten Gesellschaft ist das Wissen zu einem so zentralen Bestandteil von Wirtschaft, Technik und Kultur geworden, dass wir begonnen haben, seine Macht zu ignorieren. Dabei trägt das Nicht-Wissen eine eindeutige soziale Form: In Dantes und Petrarcas Fall ahmte die Liebe zu einer unbekannten Person die Liebe zu einem abwesenden Gott nach. Religion an sich ist ein sehr umfangreiches Ritual, das sich um das Nicht-Wissen rankt. Es handelt sich um eine Technik, die benutzt wird, um einen abwesenden Gott präsent zu machen und verehren zu können. Beatrice und Laura wurden auf diese Weise geliebt. Sie wurden es in einer Zeit, in der den Menschen diese Technik noch geläufig war. 

 

Erst im 17. und 18. Jahrhundert änderte sich etwas an diesem Zustand. Die Kosten für Bücher reduzierten sich, ein Markt für Romane entstand, die ein entschieden weltlicheres Bild der Liebe vertraten. Voll auf das Thema Liebe konzentriert, auf das Umwerben und das Bündnis der Ehe, fokussierten sich diese Werke ganz besonders auf die Gefühle der Protagonisten: wie sie zum Ausdruck gebracht wurden, welche Rituale der Selbstoffenbarung, der Entdeckung der Innerlichkeit des anderen angewandt wurden. Jean-Jacques Rousseaus Roman „Julie oder Die neue Héloise“, einer der großen Bestseller des 18. Jahrhunderts, entzündete die Fantasie von Frauen und Männern in ganz Europa. Hier wurde ein Modell von Liebe beschrieben, in dem zwei Menschen versuchten, einander über den Austausch von Briefen näher kennenzulernen. In diesen 163 Briefen legten sie ausführlich ihre eigene Innerlichkeit dar und verlangten eifrig, auch über die des anderen zu erfahren. 

 

Liebe wurde fortan zur Frage der Introspektion, des Austauschs der geheimsten inneren Gefühle und Gedanken, des Verständnisses von der Tiefe einer anderen Seele – eine Praxis, die wir „Intimität“ nennen. War die Liebe zuvor ein Ereignis, das einem zustieß und die Kontrolle über unsere Vernunft übernahm, war die Intimität nun die bewusste Anstrengung, die innersten Gedanken und Gefühle zu teilen und diese Selbstentblößung auch vom Gegenüber zu fordern. In diesem Sinne wurde Intimität zu einem Gebrauch von Wissen: Sie verband das Wissen über Gefühle mit den Gefühlen selbst. 

 

Psychologie, die Wissenschaft, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, entwickelte diese Perspektive inhaltlich noch weiter. Mit einer scheinbar endlosen Anzahl von Büchern zur Selbsthilfe machte sie deutlich, dass Gefühle und Liebe, um adäquat erlebt und ausgedrückt zu werden, eines ganz besonderen Wissens bedurften. Eines, das vor allem von Psychologen erkannt und angewandt werden konnte. So begann die Psychologie als Beruf rund um die Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts das Gebiet der Ehe und Sexualität zu beherrschen. Sie verwandelte sowohl die individuelle Psyche als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in Objekte des Wissens, das sich auf Konflikte konzentrierte. Auf die „neurotischen“, „unerfüllten“ oder schmerzhaften Aspekte von Persönlichkeiten und Beziehungen. 

 

Psychologen beschäftigten sich, wie es der Soziologe Michel Callon beschreibt, vor allem mit der Problematisierung ihrer Materie. Einem wissenschaftlichen Arbeiten, das daraus besteht, Fragen so aufzuwerfen, dass es wiederum eines kundigen Wissenschaftlers bedarf, diese zu lösen. 

 

Psychologen behaupteten nun, dass Ehen von Natur aus kompliziert seien, da jedes Individuum eine andere psychische Vorgeschichte und andere Bedürfnisse einbrächte, die jeweils verstanden werden müssten. Je komplizierter und konfliktreicher Ehe, Intimität und Liebe dargestellt wurden, desto mehr wurden sie zum Gegenstand psychologischen Wissens. Es verlangte nach sachkundiger Kontrolle und Expertise. Erfolg oder Misserfolg hingen davon ab, wie gut man sich selbst kannte, wie gut man es verstand, sein Gegenüber zu entziffern und in welchem Maße man in der Lage war, dafür geeignete Wege der Verhandlung und Kommunikation zu nutzen. 

 

Das war nun eine ganz andere Vorstellung von Ehe als die, die bis dahin geherrscht hatte. Die Sozialhistorikerin Stephanie Coontz fasste sie einmal so zusammen: „Es gab eine allgemeine Übereinstimmung darüber, welche Art von Unterstützung ein Mann seiner Frau schuldete und welche Art von Verhalten er dafür im Gegenzug von ihr erwarten konnte. Männer wurden an ihrer Arbeitsmoral, Frauen an ihren häuslichen Qualitäten gemessen.“ Die vormoderne Ehe basierte auf der Kraft impliziter Normen, auf Geschlechterrollen, auf der stillschweigenden Übereinkunft darüber, was Männer und Frauen einander schuldeten. Im Vergleich dazu ähnelt die moderne Ehe einem Bienenstock betriebsamen Summens darüber, wie man sich selbst und die eigene Beziehung mit den Mitteln des Gesprächs und der Hilfe von Experten verbessern könnte. 

 

Mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters nahm auch die Geschichte der Liebe als eine Geschichte des Wissens eine neue Form an: Sich über Internet-Dating-Plattformen oder auf Facebook zu treffen ist zu einer Frage reiner Informationsbeschaffung geworden. Man findet heraus, wer die jeweilige Person ist, was ihre Geschmacksvorlieben sind, ihr Bildungsniveau, ob sie raucht, Haustiere mag, was sie liest, welche Meinungen sie vertritt und welche Songs sie mag. 

 

Ein Internetprofil ist nichts anderes als eine Anhäufung von Wissen, eine Liste von Merkmalen, die wir sowohl auf der sprachlichen Ebene wahrnehmen, als auch – bruchstückhaft – über die sinnliche und visuelle Ebene. Wir begreifen die anderen hier in Form von Fotos und Selbstbeschreibungen – und nicht in einem kontinuierlichen Strom von Worten, Stimme und Bewegung, die zusammenführen, was Phänomenologen „Präsenz“ nennen: die unmittelbare, unteilbare und direkte Art und Weise, in der Welt physisch anwesend zu sein. In der Gesellschaft der digitalen Profile wird Identität nicht mehr als bunte Mischung aus dem begriffen, was wir über uns und andere wissen oder nicht wissen. Vielmehr wird Identität zum selbstgesteuerten Versuch, ein Bild, ein „Image“ von sich selbst mithilfe einer Liste bestimmter Merkmale zu schaffen, einander über zuvor abstrakt definierte Charakter- und Geschmackseigenschaften zu erfassen. 

 

Während die Interaktionen des realen Lebens auf dem basieren, was der Soziologe Michael Polanyi stillschweigendes oder intuitives Wissen nennt, bestehen sie in der Gesellschaft der Profile aus eindeutigem Wissen („Ich bin Single, mag Haute Cuisine und suche eine 40 bis 50 Jahre alte Frau, die mit mir auf Reisen geht, in Konzerte und in Restaurants“). Das ist ein drastischer Unterschied zum Sich-Verlieben, welches eine unbewusste Reaktion auf einen anderen Menschen ist. Die Liebe kann unsere Vernunft kapern, sie kann uns dazu bringen, von unseren sozialen Gewohnheiten abzuweichen, gerade weil das Unbewusste Teil ihres Spiels ist. 

 

Doch im digitalen Zeitalter wird die Art und Weise, wie wir uns begegnen, zuallererst von den bewussten, rationalen Anforderungen der Merkmalslisten gelenkt, die wir für uns selbst und in Erwartung an andere in digitalen Profilen festgegossen haben. Eine Gesellschaft der Profile, die auf Informationen über uns selbst und andere besteht, kann nur schwer herbeiführen, was wir uns von einer romantischen Begegnung wirklich erhoffen: voneinander bezaubert, verhext zu sein, dem anderen und seinem Charisma zu verfallen. Eine Liste von Merkmalen kann höchstens neugierig aufeinander machen, aber nicht verzaubern. Das allein vermag nur die Präsenz eines anderen. 

 

Die Gesellschaft der Profile kann kaum Mysterien, Glanz, Versunkenheit in der Präsenz eines anderen produzieren. Ganz so, als würden unsere Gefühle nicht von dem aktiviert, was wir wissen, sondern von dem, was wir vom anderen vermuten und erwarten. Wie unser Bewusstsein von einem anderen Körper, einer Stimme berührt werden kann, von dem, was gesagt wird, und dem, was nicht gesagt wird. Von Anwesenheit – und Abwesenheit. Der Soziologe Georg Simmel hat es treffend beschrieben: „Wir sind nun einmal so eingerichtet, dass wir nicht nur einer bestimmten Proportion von Wahrheit und Irrtum als Basis unseres Lebens bedürfen, sondern auch einer solchen von Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bilde unsrer Lebenselemente.“ 

 

In diesem Sinne plädiere ich nicht dafür, in eine Zeit zurückzufallen, in der Frauen bloß Objekte waren, denen man huldigte. Oder schlimmer: in der sie Subjekte waren, die sich darüber definierten, wie sehr sie sich für andere aufopferten. Doch in unserer an Wissen, Profilen und Informationen gesättigten Welt sollten wir uns vielleicht wieder nach mehr Undeutlichkeit sehnen – dieser hervorragenden Qualität, die es schafft, uns unser Nicht-Wissen voneinander zu bewahren. 

 

Bild: pixabay.com

 

 

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