Neubeginn – Holger Fuchs

Anfänge und Neubeginne 

2011 bemalte die amerikanische Künstlerin Candy Chang erstmalig an einer Straßenecke in New Orleans ein altes Haus mit Tafelfarbe. Sie ließ die Farbe trocknen und schrieb achtzig Mal einen halben Satz darauf:   

Before I die I want to… („Bevor ich sterbe, will ich …“).  

Hinter jedem Halbsatz ließ sie eine Lücke. Dann schraubte sie eine Kiste mit bunten Kreidestücken an die Wand und wartete. Am nächsten Tag waren alle Lücken gefüllt. Passanten hatten in die Kreidekiste gegriffen und an die Wand geschrieben, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, bevor es zu Ende geht:  

Bevor ich sterbe, … will ich Trompete lernen.
Bevor ich sterbe, … will ich Pilot werden.
Bevor ich sterbe, … will ich sieben Kinder haben.
Bevor ich sterbe, … will ich den Tadsch Mahal sehen.
Bevor ich sterbe, … will ich eine Theorie entwickeln.  

Aber wann fängt man an, sich diese Wünsche zu erfüllen? Heute? Morgen? Im neuen Jahr? Irgendwann?  

Aus den beschrifteten Wänden spricht das Verlangen, etwas mit sich anzufangen. Der Drang, dem eigenen Leben etwas hinzuzufügen, was darin fehlt. Man begegnet diesem Bedürfnis nicht nur in den Kunstaktionen von Candy Chang, man stößt darauf in jeder Buchhandlung. Dort sind die Regale voll von Ratgebern für Menschen, die noch mal ganz von vorn anfangen wollen. Es gibt Kurse, die man buchen kann, wenn man sein Leben ändern möchte und nicht weiß, wie man es anstellen soll. Es gibt Coaches, die dabei helfen, Neujahrsvorsätze nicht nur zu fassen, sondern auch einzuhalten. Es gibt Psychologen, die Therapien verordnen, wenn man mit sich nichts anzufangen weiß. Die Neuanfangsbranche ist ein Wachstumsmarkt.  

Die beliebteste Weisheit dieser Branche kommt jedoch nicht von einem Psychologen oder einem Coach – sie kommt von Hermann Hesse:  

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne  

– die Schlüsselzeile aus Stufen, dem beliebtesten Gedicht der Deutschen. Abiturienten und Politiker zitieren das Gedicht in ihren Reden, Manager in ihren Strategiebesprechungen und Pfarrer in ihren Neujahrspredigten. 

Der Zauber, den Hesse in seinem Gedicht beschwört, ist die Sehnsucht nach Veränderung, die Lust am Neuen, der Reiz des Unbekannten. Doch irgendwann zwischen dem Jahr, in dem Hermann Hesse starb (also 1962), und dem Jahr, in dem Candy Chang ihren Kreidekasten an eine Hauswand schraubte, ist etwas Seltsames passiert:

Der Zauber hat an Kraft verloren. Er ist verblasst. 

Wenn ein durchschnittlicher Deutscher im Jahr 1962 seinen ersten Arbeitsvertrag unterschrieb, dann blieb er bis zur Rente in seinem Betrieb. Wenn er eine Frau heiratete, dann, um mit ihr sein Leben zu verbringen. Wenn er ein Haus baute, dann, um darin alt zu werden. Wenn er einen Fernseher kaufte, dann hielt der eine ganze Weile. Die Welt war geprägt von Stetigkeit, vielleicht auch von Eintönigkeit, in jedem Fall aber  waren Anfänge eher die Ausnahme als die Regel.  

Wenn ein durchschnittlicher Deutscher heute seinen ersten Arbeitsvertrag unterschreibt,
ist das in fast jedem zweiten Fall ein befristeter Vertrag. Wenn er heiratet, wird er sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 37 Prozent wieder scheiden lassen. Wenn er ein Haus baut, kann es gut sein, dass er dort wieder auszieht, weil er für seinen Job den Wohnort wechseln muss. Und wenn er sich einen Fernseher kauft, schafft er sich meist nach wenigen Jahren einen neuen an.  

In der heutigen Welt sind Anfänge eher die Regel als die Ausnahme.  

Dem Anfang wohnt in dieser Welt kein Zauber mehr inne. Er ist fest eingeplant in den Biografien des 21. Jahrhunderts. Ein Sachzwang, der steuert, wie wir arbeiten, leben und lieben. Er bestimmt den Takt der Fabriken und Büros, er beeinflusst unsere Freundschaften, er spiegelt sich in den Werbeslogans der Modeindustrie und beeinflusst die Produktion von Dingen: 

Beispiele? 

Motorola war mal der erfolgreichste Handyproduzent der Welt. Die Erfolgsgeschichte von Motorola ist eine Geschichte des Anfangens. Bis zu 20 neue Modelle pro Jahr und alle fanden genügend Abnehmer und machten das Unternehmen zum Milliardenunternehmen. 

Fast alles, was wir heute kaufen können, erneuert sich in immer kürzeren Abständen. 1974 lief bei VW in Wolfsburg der erste Golf vom Band. Neun Jahre lang stand er in den Autohäusern, bis 1983. Dann kam der Golf II. Acht Jahre später folgte der Golf III. Sechs Jahre später der Golf IV, weitere sechs Jahre später der Golf V. Vom Golf V zum Golf VI vergingen nur noch fünf Jahre, vom Golf VI zum Golf VII vier. Von 1974 bis heute hat sich die Modell-Laufzeit des Golfs um mehr als die Hälfte verkürzt.  

Wann ist etwas Neues nicht mehr neu oder anders: haben demnach Produkte ein Verfallsdatum? 

Das Verfallsdatum von Motorola war der 9. Januar 2007 – der Tag, an dem Apple das iPhone präsentierte. Während die Ingenieure und Designer von Motorola weiter an noch besseren Klapphandys arbeiteten, hatte Apple ein Telefon mit berührungsempfindlichem Bildschirm auf den Markt gebracht und Motorola-Manager mussten zusehen, wie die Menschen vor den Apple-Stores Schlange standen. Sie wollten kein Display mehr, sie wollten einen Touchscreen. Sie wollten nicht mehr klappen, sondern wischen. Apple hatte einen Neuanfang gewagt. Wie Motorola, nur besser.  

Der ständige Neuanfang macht das Leben schöner, leichter und länger. Weil die Erfinder von Motorola sich mit dem Funkgerät nicht zufriedengaben, können wir heute von unterwegs telefonieren. Weil die Entwickler von Apple mit immer neuer Software experimentierten, sind ihre Computer heute so einfach zu bedienen wie nie zuvor. Weil die VW-Ingenieure mit jedem neuen Golf die Bremsen optimieren, sterben heute weniger Menschen im Straßenverkehr als früher.

Deshalb finde ich Neuanfänge prinzipiell gut, weil es nicht um Produkte geht, sondern um Ideen. Um Ideen von kreativen und innovativen Menschen, was uns langsam auf die Spur dieses Vortrages bringt.  

Erkundungsdrang und Erfindergeist sind so alt wie die Menschen selbst. Im 17. und 18. Jahrhundert erfuhren sie einen gewaltigen Schub. Es war die Zeit, als Galileo Galilei die Jupitermonde entdeckte und William Harvey den Blutkreislauf, als fast jede größere Stadt einen akademischen Salon bekam und Bahnbrechendes im Akkord erfunden wurde: der Blitzableiter, die Dampfmaschine, das Fernrohr, der Pockenschutz, die Straßenbeleuchtung. Eine Zeit, in der sich die Menschen vom Primat der Kirche lösten und ihr Gottvertrauen noch nicht verloren hatten.  

Der forschende Mensch bekam ein riesiges Selbstbewusstsein, weil er sah, wie er die Welt um sich herum im Hier und Jetzt verbessern konnte. Gleichzeitig waren seine Neuerkundungen getragen vom Optimismus, daß Gott auf seiner Seite ist. Das ist eine einzigartige Kombination in der Geschichte. Eine Kombination, die dem Verlangen nach Neuem eine Wucht verlieh, die bis heute nachwirkt. Nicht grundlos entstand in dieser Zeit die Aufklärung in der Art und Weise, wie wir sie noch heute kennen.

Gründe und Motive für Neuanfänge gibt es viele: Freiwillige, unfreiwillige, plötzliche, schicksalshafte oder erkenntnisreiche. Ich möchte Euch auch hier ein paar Beispiele geben: 

Cornelia Brosch aus Reutlingen kann nicht vergessen, wie sie an einem Tag vor 20 Jahren beim Blick aus einem Klinikzimmer zum ersten Mal die Blätter eines Baumes erkannte. Sie war damals 19 Jahre alt, litt am Grauen Star und hatte eine künstliche Linse eingesetzt bekommen.  

Dirk Trapphagen aus Leverkusen kann nicht vergessen, wie er – nach 15 Jahren Ehe, als zweifacher Vater – erkannt hatte, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Zehn Jahre ist es her, dass er seiner Frau gestand: „Ich bin schwul.“ Es war der Beginn eines Lebens ohne Lüge.  

Der Palliativmediziner Winfried Gahbler aus Aachen kann nicht vergessen, wie einer seiner Hospizgäste sich aufs Sterben vorbereitete – und wie es diesem Patienten nach einem halben Jahr noch immer blendend ging. Es stellte sich heraus, dass der Tumor, den die Ärzte für tödlich gehalten hatten, gutartig war.  

Sylvia Didem aus Oldenburg, die als Kind vom Studieren träumte, aber nur die Mittelschule besuchen durfte, kann nicht vergessen, wie sie mit 51 Jahren zum ersten Mal in einem Hörsaal saß.  

Es waren nicht nur schöne Momente, von denen diese Menschen berichteten, als sie bei einer Umfrage angaben, welche Momente ihr Leben derartig prägten, dass danach nichts mehr so war, wie vorher. Aber immer waren es Erlebnisse, die ihrem Leben eine Wendung gegeben, die einen tiefen Eindruck hinterlassen hatten. So ging es Lisa Meyer, die mit 25 zum ersten Mal in ihrem Leben einen Toten im Arm hielt und seinen Körper wusch – es war ihr Verlobter. Der Tag war der Anfang ihres Lebens ohne ihn.

Candy Chang, unsere Künstlerin aus New Orleans, sammelt bis heute Sätze, die Menschen auf ihre Wand geschrieben haben:  

Bevor ich sterbe, will ich vor einem Millionenpublikum singen.
Bevor ich sterbe, will ich erleben, wie meine Tochter ihren Abschluss macht.
Bevor ich sterbe, will ich Bäume pflanzen.  

Niemand schrieb: Bevor ich sterbe, will ich ein neues Smartphone kaufen… 

Das sollte uns Hoffnung geben und Freude bereiten. Das gilt übrigens für alle von uns. Sind wir bereit zum permanenten Neuanfang? Ich bleibe bei Hermann Hesse und zitiere: „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ 

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! 

Holger Fuchs

Transformation Network Team

 

Buchtipp: